Worms, 13. August 2018.
Über vieles waren die knapp 50 Teilnehmenden - VertreterInnen aus Verbänden und Politik sowie Betroffene - sich einig. Erstens: Sucht ist ein enormes Problem unserer Gesellschaft. Alkohol-, Medikamenten-, Drogen- oder Nikotinabhängigkeit, Essstörungen, Glücksspiel- oder Onlinesucht: Millionen von Menschen verlieren an sie, so Caritasdirektor Pascal Thümling, "...ihre Freiheit und Selbstbestimmung....". Scham und Schuldgefühle zermürben, sie entscheiden nicht mehr selber über ihr Leben - und müssen doch immer wieder hören: "Nimm dich doch einfach zusammen," so Gabriele Hub vom Kreuzbund des Diözesanverbandes Mainz e.V.
"Herzstück der Suchthilfe"
Die zweite Übereinstimmung: Suchtberatung hilft. Ambulante Beratungsstellen wie das gleis 7 in der Wormser Renzstraße seien, so Stefan Bürkle, Geschäftsführer der Caritas Suchthilfe mit Sitz in Freiburg, das "Herzstück der Suchthilfe", ein entscheidendes Bindeglied in der Hilfe für Betroffene vor Ort. Viele Wortbeiträge des Fachtages bestätigten das: Oft können Betroffene oder ihre Familien hier das erste mal überhaupt mit jemandem sprechen, der ihnen nicht verurteilend sondern unterstützend und kompetent begegnet. BeraterInnen vermitteln in ärztliche und auch stationäre Behandlung und übernehmen die für die Betroffenen so enorm wichtige Nachsorge - auch für Angehörige, deren Belastung weit unterschätzt wird.
Folgen für die ganze Gesellschaft
Drittens: Die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgekosten von Suchterkrankungen betragen viele Milliarden Euro; die negativen sozialen Auswirkungen für unsere Gesellschaft sind enorm. Suchtberatungsstellen sind deshalb nicht nur wertvoll für Betroffene, sondern für uns alle. Auch, weil sie, wie das gleis 7, Öffentlichkeits- und Präventionsarbeit leisten, etwa in Betrieben und Schulen. Und auch hier wachsen die Aufgaben: 70% der Kitakinder, so Sozialdezernent Waldemar Herder, beschäftigen sich täglich eine halbe Stunde mit dem Smartphone.
"Wie lange können Sie sich die ambulante Suchtberatung noch leisten?"
Auch ein vierter Punkt war unstrittig: Die Rahmenbedingungen verändern sich ständig. Die Klientenzahlen steigen und immer häufiger leiden suchtkranke Menschen auch an psychischen Störungen. Gleichzeitig sind Zuschüsse von Land und Kommune festgeschrieben oder werden gekürzt, so dass der Eigenanteil der Träger steigt. Die Schließung der Wormser Beratungsstelle des Diakonischen Werkes zeigt, was für schmerzliche Folgen dies haben kann. Yvonne Wehrheim, als Fachbereichsleiterin auch zuständig für die Suchtberatung bei der Wormser Caritas: "Wir konnten zwar mit Hilfe der Kommune die Versorgungslücke teilweise ausgleichen - dennoch müssen die Menschen mit Wartezeit rechnen."
Ein Spannungsfeld, um es vorsichtig zu formulieren, das Moderator Johannes Götzen mit einer Frage an Pascal Thümling auf den Punkt brachte: "Wie lange können Sie sich die ambulante Suchtberatung noch leisten?" Ausstieg, so Thümling, sei für die Wormser Caritas keine Option. Viel zu wichtig sei sie hinsichtlich des Leitbildes "Im Mittelpunkt der Mensch" und als "Wesensaufgabe unserer Kirche und unserer Caritas."
Bestehe denn da nicht die Gefahr, so Johannes Götzen, dass sich der Staat auf genau dieser kirchlichen Haltung ausruhe? Erwartungsgemäß gab es darauf keine direkte Antwort. Für Dr. Bodo Dehm, Leiter des Referats Gewaltprävention/Frauen in besonderen Lebenslagen im rheinland-pfälzischen Familienministerium, ist allerdings klar, dass die Suchtberatung ohne kirchliche Träger nicht möglich sei.
Die Kosten gerechter verteilen
Was also ist zu tun? Eine Eigenbeteiligung der Betroffenen ist für Pascal Thümling kaum vorstellbar. Viel zu wichtig sei die niedrigschwellige Zugänglichkeit der Suchthilfe. Online-Beratung, so Nina Roth, Leiterin des Referats Suchtprävention der Landeszentrale für Gesundheitsförderung, sei zwar eine wichtige Ergänzung - aber Beratung sei vor allem Beziehungstätigkeit und brauche den persönlichen Kontakt.
Für Waldemar Herder, Sozialdezernent der Stadt Worms, müssen die Versicherungsträger viel mehr in die Pflicht genommen werden. Sie allerdings waren in der Runde nicht vertreten, ebenso wenig wie die Bundespolitik, die in Stefan Bürkles Augen genau daran etwas ändern könne und müsse. Allerdings warnte er in diesem Zusammenhang vor einem Abrücken von der pauschalen Finanzierung, die weiterhin dringend notwendig sei. Für Bürkle liegt auch eine klare Mitverantwortung bei den Unternehmen, die gut an der Sucht verdienen. Ihre Beteiligung an der Finanzierung der Suchtberatung sei bisher immer am Argument der Arbeitsplätze gescheitert. Ein vertrautes Muster: Wenige verdienen, den Schaden zahlt die Gesellschaft.
Ein kurzes Fazit? Kaum möglich nach fünf Stunden konzentrierter Diskussion und Information. Für Yvonne Wehrheim war das Wichtigste, offen miteinander über die Zukunft der Suchtberatung zu reden. Und so Betroffene nicht mit ihrer Scham alleine zu lassen.
Info
Laut Bundesgesundheitsministerium rauchen in Deutschland 14,7 Millionen Menschen, 1,8 Millionen Menschen sind alkoholabhängig und Schätzungen legen nahe, dass 2,3 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig sind. Rund 600.000 Menschen konsumieren Cannabis und andere illegale Drogen, gut 500.000 Menschen zeigen ein problematisches oder sogar pathologisches Glücksspielverhalten. Auch eine exzessive Internetnutzung kann zu abhängigem Verhalten führen: Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland etwa 560.000 Menschen onlineabhängig sind.
Quelle: www.bundesgesundheitsministerium.de